Geisterstadt

Lüderitz. Wie um alles in der Welt beschreibt man Lüderitz?
Ich weiß nicht, ob es einen Ort gibt, der schräger ist als Lüderitz.
Und übrigens, damit das ein für alle Mal geklärt ist, das Ende der Welt ist in Lüderitz. Das geht gar nicht anders. Es muss dort sein. Und dort gibt es eine direkte Verbindung zum Mond. Vielleicht sogar bis zum Mars. 
Wenn man aus der Stadt hinausfährt, dann ist man sprachlos angesichts der unfassbaren Ödnis aus Fels, Stein und Sand. Nur hin und wieder erinnert einen eine klitzekleine, den roh wütenden Elementen heldenhaft und farbenfroh trotzende Flechte daran, dass man auf der Erde sein muss. Oder dass man Leben auf dem Mond oder Mars gefunden haben könnte, was natürlich die noch größere Sensation wäre.

Lüderitz ist eine kleine, zur deutschen Kolonialzeit gegründete Stadt mit bunten Häuschen und prachtvollen Villen, an denen der Zahn der Zeit nagt. In Lüderitz aufgrund der Unnachgiebigkeit der Elemente etwas schneller als anderswo.
Außerdem hat die Stadt einen Hafen, einen Leuchtturm und die Felsenkirche. Besonders beliebt schien zur Kolonialzeit zu sein, Straßen nach Vögeln zu benennen. So haben wir in Swakopmund schon in der Seeadlerstraße gewohnt, in Lüderitz gab es diverse Vogelstraßen und die Sehnsucht nach der Nachtigall schien im namibischen Wüstenklima besonders groß zu sein, denn eine Nachtigallstraße gibt es in allen von Deutschen in Namibia gegründeten Städten.
Das Meer um Lüderitz ist rauher als anderswo, in etwa so wie ich es mit am Kap Hoorn oder auf South Georgia vorstelle und es ist kalt, der Benguelastrom lässt grüßen (Benguelastrom? Wasndat? HIER gerne nachlesen).
Vor Lüderitz und der dort noch lebensfeindlicher wirkenden Wüste als weiter im Norden - hier trifft man nichtmal mehr Oryx oder Schakal - gibt es Robben, Pinguine, Wale und in den flachen Buchten sogar Flamingos, die auf ihren dünnen Beine irgendwie überhaupt nicht robust genug wirken für diese gnadenlose Welt.
Lüderitz selbst ruft Assoziationen hervor mit Orten auf Spitzbergen oder Grönland. Bunte Häuschen, die sich an die Felsen über dem wütenenden Meer klammern. Anstatt mit Eis und Schnee umgibt sich Lüderitz mit Fels und Sand, letzterer allerdings so weiß, dass er aus der Ferne auch mit Schnee verwechselt werden könnte. Einzig die Palmen passen nicht so ganz ins Bild. Sogar einen Schneepflug haben sie in Lüderitz, der die einzige Zufahrtsstraße und somit einzige Lebensader am Pochen hält.

Kein sonnengegerbter Ort im australischen Outback oder im entferntesten Norden Western Australias, wo man echt sowas von - excuse my language - am Arsch ist, hat auch nur im Entferntesten so isoliert gewirkt wie Lüderitz. Vielleicht ist Lüderitz ja auch tatsächlich am Mond, irgendwie dorthingekommen, keiner weiß wie, es ist vielleicht einfach passiert.
Wenn man zum Essen geht, fragt man sich, wieso ausgerechnet Eisbein es geschafft hat, auf den Speisekarten zu bleiben. Aber hier im Süden wird nicht gegeizt mit deutschen Spezialitäten: Thüringer Bratwurst, Debreziner, Wiener, Kassler, Schweinebraten, Sauerkraut und Bratkartoffeln. Sandi hat neulich sogar einen Gordon bleu gegessen. Wer auch immer dieser arme Gordon war, den er da verspeist hat.
Auch das Wort Wind bekommt in Lüderitz eine ganz neue Bedeutung. Bei unserem Ausfug auf die Halbinsel sind wir wie betrunken durch die Geged getorkelt, so haben uns die Windböen durchgeschüttelt. Geradeaus gehen war schlicht nicht möglich. In unserer Unterkunft in einem Guesthouse, welches in einem ehemaligen Kaufmannshaus mit dem Namen Krabbenhöft und Lampe untergebracht war, haben sich die Mädels glaube ich alle Mühe gegeben, die Wohnung sandfrei zu halten. Nach einem Tag dort war alles sandig. Die Böden, der Esstisch, die Küchenanrichten. Am dritten Tag hatten wir kleine Dünen auf den Fensterbrettern. Und das, wohlgemerkt, obwohl wir die Fenster nicht eine Minute aufgemacht hatten. Der Sand und der Wind, ein eingespieltes Team.

Als wir in Lüderitz ankamen, war mein erster Gedanke.
'Oh.'
Dann erstmal ne Weile nichts, bis ich den ersten Anblick der Stadt verarbeitet hatte.
Der zweite Gedanke lautete:
'Was um alles in der Welt machen wir hier drei Nächte???'

Und dann wurden es drei erstaunlich kurzweilige Tage, an denen wir alle genossen haben, nicht das Gefühl zu haben, dass wir mega viel verpassen, wenn wir nicht zum Sonnenaufgang auf der Matte stehen. Wobei die Jungs das Konzept Sonnenaufgang jetzt so ganz grundsätzlich auch nicht total alternativlos finden.
Außerdem kamen wir am Samstag an, so dass wir uns vor Montag ohnehin weder um Wäsche noch um Motoröl kümmern konnten. Sehr gut. Wenn man nichts machen kann, dann muss man auch nicht drüber nachdenken. Und zum Glück ist es in Lüderitz so furztrocken, dass schlecht geschleuderte Wäsche, die man am frühen Nachmittag aufhängt, am Abend schon fast trocken ist.

Sandi und ich machten am ersten Nachmittag also einen kleinen Spaziergang den Diamantberg hinauf und in die Stadt und zum Hafen hinunter. Auf dem Diamantberg steht ganz oben und zwischen groben Felsen - daher der Name - die Felsenkirche mit ihren bunten Glasfenstern. Das Fenster hinter dem Altar wurde von Kaiser Wilhelm II höchstpersönlich gestiftet worden - vermutlich auf dass sie auch in Lüderitz eine Straße nach ihm benennen. Wenn auch nichts die Bismarckstraßen toppt. Die sind ein bisschen wie Nachtigallstraßen. In jeder Stadt vorhanden.

Unser Ausflug am nächsten Tag war spektakulär. Auf die Halbinsel östlich der Stadt.
Dort gibt es nichts. Nichts. Wirklich einfach nichts. Nackte Felsen und Sand und drumherum das tosende Meer, das gegen die Felsen und die vorgelagerten Inselchen anstürmt und sich an ihnen austobt. Welle für Welle für Welle für immer. 
Eine Walfangstation hatte man dort erbaut, ein paar Häuser auf einer vorgelagerten Insel bei den Pinguinkolonien für den Guanoabbau. Guano bedeckte die Inseln damals meterhoch. Ich habe keine Ahnung, wie die Pinguine da noch hochgekommen sind?!? Hätte ich mal fragen sollen. 
Und einen Leuchtturm gibt es natürlich. Einen schlanken, rot-weiß gestreiften. Er ist das einzige auf der Halbinsel, das den Blick fängt und lenkt, bevor er in die Ferne schweift. Irgendwie beruhigend.

Neben dem Leuchtturm betreibt eine sehr wortkarge Frau ein kleines Café und ich denke, wer dort lebt, der kann nicht anders, als workarg zu sein. Dort wo man den Elementen so trotzen muss, dort ist alles etwas wert. Auch ein Wort. Deshalb lieber etwas sparsamer sein.
Ein, zwei Stündchen hatten wir uns für die Halbinsel vorgenommen und es wurde ein ganzer Nachmittag. Anhalten, das Nichts bestaunen oder die gigantischen Wellen. Kleiner Spaziergang im wütenden Wind zu einer vom Meer in die Felsen gefressenen Höhle. Die größten Miesmuscheln und Napfschnecken der Welt bestaunen. Möwen dabei zusehen, wie sie einen toten Oktopus zerpflücken. Wieder die Wellen bestaunen und sich fragen, ob diese Landschaft unfassbar schön oder doch unfassbar abstoßend ist.
Darauf haben wir an dem Nachmittag tatsächlich keine Antwort gefunden, sind uns aber einig, dass es ganz einmalige Landschaften sind. Aus schroffem Fels und glattem Fels. Aus Fels, der aussieht wie rund geschliffene Lavaströme oder mit reinweißen Quarzadern durchzogener Gneis, der einen glauben lässt, man wäre direkt in eine Schatztruhe gefallen. Hin und wieder ein mit Kelp und Muscheln überzogener Strand aus feinstem weißen Sand oder eine kleine, schwarze Bucht, in der die Flamingos ihre Schnäbel durch das Wasser ziehen.

Montag dann war ein Antritt-zum-Sonnenaufgang-Tag. Ich wollte pünktlich zur Toresöffnung in Kolmanskop sein. Nicht weil ich unbedingt den Sonnenaufgang sehen wollte, sondern weil ich im Licht des Sonnenaufgangs fotografieren wollte. Erstaunlicherweise kam die ganze Familie mit.

Kolmanskop ist eine Geisterstadt. Eine verlassene, dem Wind und dem Sand überlassene alte Minenstadt. Und der Wind und der Sand leisten ganze Arbeit, sich die Kolmanskop einzuverleiben.

Kolmanskuppe, wie es damals hieß, ist eine Diamantenstadt. In der Wüste im Süden Namibias gibt es Diamanten. Viele Diamanten. Es gibt noch heute aktive Minen in Elisabethbucht oder Oranjemund etwas weiter im Süden.

Als man die ersten Diamanten fand und mit dem Abbau anfing, da musste man den Sand noch nichtmal umgraben. Die Steine lagen einfach so auf dem Boden. Man musste sie nur aufklauben.
Schnell setzte ein Diamantrausch ein und einige Minenstädte wurden gegründet. Damit sich allerdings nicht jeder frei bedienen konnte, wurde bald das sogenannte Sperrgebiet eingerichtet. Welches es noch heute gibt. Ein Blick auf die Karte Namibias genügt, das Sperrgebiet springt aufgrund seiner Größe sofort ins Auge. Heute ist das Sperrgebiet ein Nationalpark und es gibt Pläne zur touristischen Erschließung. Momentan jedoch kann man es nur teilweise und ausschließlich im Rahmen einer oganisierten Tour mit einem lizensierten Touranbieter besuchen. Und es mangelt nicht an Schildern, die einen daran erinnern, dass man besser draußen bleibt.

Kolmanskop war seinerzeit eine der reichsten Städte der Welt. Man ließ sich aus Deutschland runterbringen was man sich nur einbildete. Das einzige, das man damals nicht aus Deutschland hinunterschiffte, waren Trinkwasser und Kohle. Die kamen beide aus Kapstadt. Aber ob Eichenmöbel, Damenstrümpfe, Rollmöpse oder eine Kegelbahn. Alles aus Deutschland verschifft. Genauso wie Champagner oder Kaviar. Es gab ein Krankenhaus, eine Schule, eine Turnhalle, die besagte Kegelbahn, ein Kino, in welchem die ersten Stummfilme gezeigt wurden und ein großes Salzwasserbecken, welches als Schwimmbad genutzt wurde. Eine Eisfabrik versorgte jeden Haushalt täglich mit einem Klotz Eis für den Kühlschrank und man musste in der Hitze noch nichteinmal durch den Ort laufen, eine kleine Eisenbahn kam auf Bestellung und tuckerte die Damen vom Bäcker oder Metzger über die Chapagnerstube zurück ins herrschaftliche Haus. Die Leute lebten in Saus und Braus. Das Ganze ging jedoch nicht besonders lange. Ein paar Jahrzehnte und die Minen waren ausgebeutet und man zog weiter. Die letzten Bewohner mussten die Stadt Mitte der 50er verlassen.

Wind und Sand sind dort ein ziemlich effizientes Team und sie holen sich den Ort zurück, der ihnen gehört. Und sie haben Kolmanskop zu einem bizarr-spannenden Ort des Verfalls gemacht.

Man kann frei hindurchspazieren, in die Häuser hineingehen. Bei den meisten Häusern haben Wind oder Sand die Fenster zerborsten. Die meisten Türen stehen offen. Und so macht der Sand, was Sand so macht. Er dringt ein. Und darin ist er gar nicht scheu. In und an vielen Häusern haben sich Sanddünen gebildet, so dass die Häuser halb verschüttet sind. Man duckt sich dann durch die Fester hinein, die Türen schon lange nicht mehr passierbar.
Die Tapeten von den Wänden geschliffen und die Farbe von den Türstöcken. Bodendielen, die sich nach oben biegen, nicht geborstene Fenster, die ganz matt gestrahlt wurden
 vom ewigen Sand im Wind. Hier eine Badewanne, die der Sand verschoben hat, ein Strommast, ein einsam in den Himmel ragt, ein paar verbogene Schienen der Eisenbahn. Und dann dazwischen gänzlich erhaltene Häuser, in denen deutsche Eichenmöbel stehen, Jugendstildetails die Fenster zieren und das Telefon wartet, dass endlich jemand kommt, um es mal wieder abzuheben. Die Kegelbahn ist noch voll intakt, man müsste nur die Bar bestücken und einen Klotz Eis in den Kühlschrank legen, schon könnte die Kegelgesellschaft auf einen lustigen Abend vorbeikommen.
Das Erkunden der verschiedenen Häuser. Das des Architekten oder der Ärzte. Des Ingenieurs oder des Gebietsvorstehers. Die Eismaschine oder die Brühkessel in der Schlachterei. Die Blicke aus den melancholischen Fenstern, die Sandgebirge in den Häusern, die verrosteten Details wie Festergriffe oder Türklinken, die Muster der Tapeten oder der Küchenfliesen. Ich hätte ewig weiterforschen können. In jedem Raum eine Überraschung. Und sich vorzustellen, wie es wohl gewesen sein muss damals, als das Leben dort genauso windig und sandig war und heiß.

Wir haben eine kleine Führung mitgemacht, hochinteressant. Was ich allerdings dabei vermisste, so wie überhaupt in Kolmanskop oder anderen Orten ist ein klein wenig die kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und dem Ausbeuten fremder Länder. Aber damit ist's in Deutschland auch nicht weiter her.

Das mit dem Sonnenaufgang in Kolmanskop hat übrigens nicht so ganz geklappt. Lag allerdings nicht an uns. Wir waren zum Sonnenaufgang da. Die ersten! Jepp! Die ersten! Das war auch gut so, denn wir hatten die erste halbe Stunde die ganze Stadt nur für uns. Ohne Fußspuren in den Fotos. Alle Fußspuren vom Vortag gegepustet.

Nur, es gab an dem Tag keinen Sonnenaufgang. Also natürlich ist die Sonne aufgegangen. Aber sie kam nicht raus. Und wer war schuld? Der Sand. Der ist dort an allem schuld. Er war in der Luft. Überall. Gelbe Luft. Überall. Die Sonne kam den ganzen Tag nicht raus. Was allerings für eine Geisterstadt eine perfekte Stimmung hinmalte und uns wieder schnurstracks wie auf den Mond zauberte.

Und die 3 Nächte dort? Rum wie im Flug!

Ich häng Euch noch ein paar Fotos an. Wer noch mehr möchte, ich hab noch ungefähr dreitausend weitere.







Kommentare

  1. Liebe Antonia, das holt mich total ab , würdest du mir tatsächlich noch ein paar Bilder aus dieser bizarren Stadt schicken ?! Ich finde das phantastisch 👏. Herzliche Grüße und ganz viel unvergessliche Erlebnisse weiterhin

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  2. Der Bildband, falls er herauskommt, ist schon bestellt 🤩

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    1. Für den Bildband muss ich dann wohl doch nochmal im richtigen Sonnenaufgang hin. 😃

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    2. Nein ich bin echt verschossen in die Bilder, wir alle, so wie sie sind. Die Farben sind ein Traum.

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    3. Danke. Ich fand den gelben Sandhimmel dazu auch echt gut. Aber Du solltest mal nach Bildern beim Sonnenaufgang googeln. Der Hammer, sag ich Dir.

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  3. Brillant, liebe Antonia, die Schilderung dieser Surrealität - wirklich brillant!
    Liebe Grüße
    Papa

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